Teefahrer-Geschichte von Felix Leibrock
17. Februar 2022Mit der Möwe fliegen
Zweieinhalb Jahre habe ich in München keine Wohnung gefunden. Gesucht habe ich ein einfaches Apartment, mit eigener Dusche und kleiner Küche. Als evangelischer Pfarrer habe ich mir gute Chancen ausgerechnet, etwas zu finden. Vergebens.
Möblierte Zimmer bekam ich, ja, die schon. Aber die Verträge dort, wenn es überhaupt welche gab, waren sittenwidrig. Tagsüber durfte ich das Zimmer nicht benutzen. Oder die Vermieterin kam nachts, wenn ich schlief, einfach ins Zimmer, um die Blumen zu gießen. Eine andere verlangte, ich möge auf Knien duschen. Ein LKW-Fahrer in Waldperlach ließ mich die Miete bezahlen und sagte mir danach, das Zimmer im Keller sei ohne Heizung. Der Mitarbeiter eines städtischen Friedhofs bot mir an, seine Dienstwohnung auf dem Friedhof zu nutzen, allerdings nur jede zweite Woche …
Zweieinhalb Jahre später habe ich dann endlich eine eigene kleine Wohnung gefunden. Was für ein Geschenk, die Tür von innen zu schließen! Zu duschen, wann ich wollte! Das erfüllt mich seitdem mit großem Dank. Dann sah ich den Bus, die Möwe Jonathan. Eine junge Frau, ein älterer Herr verteilten Lebensmittel an Obdachlose. Für mich ein Wink des Himmels: Jetzt kannst du deinen Dank auch zeigen, habe ich mir gedacht. Ich habe beim Verein angerufen, der den Bus organisiert. Dann die erste Fahrt. Am 2. August 2015 nahm mich der Tee-Walter an einem Sonntag mit. Neben den üblichen Broten und Obst hatte er Zigarillos dabei. Nicht nur deshalb flogen ihm die Herzen zu. Er sah für mich ein bisschen aus, wie ich mir als Kind den lieben Gott vorgestellt habe. Auch zürnen konnte er, als uns einer am Bus provozierte und mehr wollte als die anderen. Da hat er ihn mit bairischen Worten zurechtgewiesen, die sich gewaschen hatten! Was für wunderbare Begegnungen habe ich seitdem mit unseren Freundinnen und Freunden auf der Straße gehabt! So viel habe ich gelernt: Wie man mit schwierigen Phasen im Leben umgeht. Wie man trotz schwierigster Umstände dem Leben einen Wert abgewinnt. Dazu kamen die Gespräche in der Pommernstraße vor den Fahrten mit der Möwe Jonathan: Mit dem Tee-Walter, Elisabeth und Annegret. Oft waren sie vor lauter Zigarettenrauch nur schemenhaft zu erkennen. Aber sie haben mich immer wieder unterschwellig spüren lassen, etwas wirklich Sinnvolles und Gutes zu tun. Letztlich das, was der Mann aus Nazareth vorgelebt hat und was einer darauf fußenden Kirche gut ansteht: An den Rand der Gesellschaft zu gehen. Für die da zu sein, die niemand beachtet. Nicht Mitleid zu äußern, sondern zu handeln. Danke, Möwe Jonathan, dass ich immer mal mit dir fliegen darf!