Leben mit den Armen

Das Antlitz Jesu in den Verachteten und Leidenden suchen und lieben

Als Walter Lorenz auf einem Spaziergang durch die Fußgängerzone die zwei Bettler traf, hatte er einen Kuchen bei sich und beschloss, ihn mit den Männern zu teilen. Er wandte sich ihnen zu und da war es ihm – wie er selber immer wieder berichtet – als ob ihn aus den Augen des einen Jesus Christus anschaute.

Dieses Erlebnis im Advent 1980 verwandelte Walters Leben. Noch war nicht ganz klar, in welche Richtung es gehen würde, aber dass Christus ihm einen neuen Weg zeigen würde, war ihm bewusst, ER war ihm in einem anderen Menschen begegnet.

Im Laufe von nun über 30 Jahren Leben mit unseren ehemals obdachlosen Freunden war und ist immer deutlich: Gott begegnen zu wollen, heißt immer, zu den Menschen zu gehen, sich ihnen zuzuwenden, sie anzuschauen, Leben zu teilen. Dies versuchen wir – die Schwestern und Brüder vom hl. Benedikt Labre – in unseren zwei Wohngemeinschaften für ehemals obdachlose Menschen.

Hier teilen wir nicht nur das Materielle und Fassbare, wir teilen wie in einer großen Familie das Leid und die Freude, das Ringen mit dem Anderen. Gerade durch unser Mitleben und Arbeiten im Haus, durch das Teilen des ganzen Tages mit unseren Freunden von der Straße kann die größtmögliche Heilung stattfinden. Wir bieten keine professionellen Therapien an. Sondern wir wollen mit denen, die keine Therapie machen können oder wollen, die durch das gesamte soziale Netz gefallen sind und die von der Gesellschaft völlig aufgegeben bzw. gar nicht mehr gesehen werden, jeden einzelnen Tag sinnvoll, freundschaftlich und froh gestalten. Wir freuen uns über jeden Tag, an dem das gelingt. Und wir wissen, dass es letztlich nur die Liebe Gottes ist, Sein Mitgehen, die dieses Gelingen schenkt.

Unser eigenes Mittun besteht zunächst darin, ein Zuhause zur Verfügung zu stellen, d.h. Zimmer, Kleidung, Essen und Trinken, damit jemand, der von der Straße zu uns findet, erstmal zur Ruhe kommt. Nach einiger Zeit werden dann seine persönlichen Dinge geklärt, z.B. welche Bezüge stehen ihm zu? Bekommt er Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe? Hat er einen Ausweis? Bei all diesen Fragen stehen wir helfend zur Seite und begleiten unseren Freund wenn nötig auch zu den Ämtern.

Darüber hinaus kümmern wir uns darum, den Tag rein äußerlich so zu gestalten, dass sich jeder darin einbringen kann, jeder das Gefühl bekommt, dazuzugehören. Besonders wichtig ist dabei das gemeinsame Arbeiten, nicht damit „das Haus läuft“, sondern damit jeder eine sinnvolle Tätigkeit hat und wieder lernt, kleinere Verantwortungen zu übernehmen. Daraus entdeckt jeder wieder sehr bald das Empfinden, gebraucht zu werden, nützlich zu sein, helfen zu können – Schritte auf dem Weg zu einem Leben in Menschenwürde.

Ein Besucher, der unser Haus betritt, wird mit seinen bisherigen Erfahrungen und Bildern von Obdachlosen nicht viel anfangen können. Er trifft bei uns auf Menschen, die putzen, kochen, den Garten richten, Telefondienst machen, in der Werkstatt arbeiten, etc. Und vor allem trifft er Menschen, die ihm höflich und freundlich – und durchaus mit erhobenem Haupt – begegnen. Verwahrlost, betrunken, bettelnd, niedergedrückt? Dieses angeblich typische Bild des Obdachlosen findet sich bei uns nicht. Denn wenn ein Mensch Heimat, Geborgenheit und Angenommensein erfahren darf, kann er auch sein wahres Ich entdecken, kann er wieder Er selbst werden und so auch im sozialen Miteinander seinen Platz finden.

Jedoch war es seit der ersten Begegnung von Walter Lorenz mit Obdachlosen bis zu dieser Situation noch ein weiter Weg. Zunächst begann er, regelmäßig die Obdachlosen in der Stadt mit Tee und Brot zu besuchen, um mit ihnen in Kontakt zu kommen und diesen Kontakt zu pflegen und zu vertiefen. Dieses sogenannte „Teeausfahren“ gibt es auch heute nach über 30 Jahren noch. Jeden Abend fahren ein Mann und eine Frau aus unserer großen Gruppe von Ehrenamtlichen oder wir selber zu unseren Freunden von der Straße, bringen ihnen Tee und Brot und für den Notfall Kleidung – aber vor allem die menschliche Begegnung. Wir tun dies, weil Christus unseren Freunden durch uns nachgehen will, sie suchen möchte in ihrer Not und Verlassenheit. Wir möchten ihnen vermitteln, dass es Menschen gibt, die sie gern haben, dass sie es wert sind, dass jemand für sie unterwegs ist. Denn sie sind von Gott geliebt und Seine Kinder wie jeder andere Mensch auch.

Viele der Freunde von der Straße, die beim Teeausfahren angetroffen wurden, konnten wir  erreichen durch die Treue des Teeausfahrens jeden Abend und sie dadurch gewinnen, den Versuch zu wagen, in eines unserer  Häuser einzuziehen. Eine große Hilfe ist dabei, dass wir kein trockenes Haus sind. Jeder unserer Mitbewohner kann, wenn er nüchtern ist, vier Flaschen Bier über den Tag verteilt bei uns kaufen. Anderer Alkohol ist nicht erlaubt. Viele kommen mittlerweile mit dieser reduzierten Menge aus, andere brauchen etwas mehr und trinken das dann außerhalb des Hauses. Wenn es wirklich mal zu viel wird, müssen wir entsprechend damit umgehen. Jemand, der angetrunken ist, kann nicht in den Gemeinschaftsräumen bleiben, sondern muß in seinem Zimmer sein, bis er wieder nüchtern ist. Kommt es in einer solchen Situation zu größerem Ärger oder ist jemand häufiger betrunken, versuchen wir in Gesprächen, demjenigen zur Einsicht zu helfen, es wieder mit weniger Alkohol zu probieren.

Aufgenommen werden bei uns obdachlosen Männer und Frauen. Wir finden es wichtig, dass es auch Frauen in jeder Gruppe gibt, da ihre Anwesenheit die Atmosphäre des Hauses positiv beeinflusst. Alter, Staatsangehörigkeit, Religion, etc. sind nicht von Bedeutung. Allein wichtig für die Aufnahme ist die Not des einzelnen. Gerade was die Religion, den Glauben betrifft, möchten wir auf keinen Fall Druck auf unsere Freunde ausüben. Jeder von uns konnte in großer Freiheit entscheiden, ob er seinen Lebensweg mit Christus gehen will oder nicht. Wie könnten wir also andere dazu zwingen, noch dazu Not und Leid ausnutzen? Unsere Mitbewohner wissen, dass wir versuchen, aufgrund unseres Glaubens und auf dem Boden des Evangeliums mit ihnen zu leben, sie respektieren dies. Es ist für sie auch selbstverständlich, dass wir vor dem Essen beten, dass wir morgens und abends in unseren Gebetszeiten möglichst nicht gestört werden und dass wir regelmäßig an unseren Hausgottesdiensten teilnehmen oder auswärts in die Messe gehen. Die meisten sind durchaus auch religiös. Und wenn ein Mitbewohner stirbt, nehmen viele von ihnen  an der Messe für den Verstorbenen teil. Ebenso selbstverständlich ist es für die meisten, bei der Messe anlässlich unseres  Benedikt-Labre-Festes dabei zu sein. Was letztlich in den Herzen unserer Mitbewohner an Glauben, an religiösem Empfinden geweckt wird, weiß nur Christus allein. Wir müssen es nicht wissen.

Mittlerweile gibt es uns über 30 Jahre. Viele unserer obdachlosen Freunde haben wir kennen lernen und mit ihnen leben dürfen, manche sind wieder gegangen, andere sind schon die ganzen 30 Jahre da, viele sind gestorben – bei uns im Haus oder im Krankenhaus – dieses Jahr nun auch unser Walter Lorenz, der Tee-Walter und unsere langjährige Gefährtin Elisabeth Jakobi. Wir können rückblickend sagen: Es war alles gut in diesen Jahrzehnten! Denn wir erfahren in unserem Leben mit unseren Freunden von der Straße, dass Gott uns in Seiner Vorsehung und mit Seiner liebenden Sorge alle Tage begleitet.

So ist der tiefste Sinn unseres Zusammenlebens im Haus mit unseren Schwestern und Brüdern von der Straße, dass wir, beschenkt von der Liebe unseres Vaters, eintreten dürfen in das Leben unserer Freunde, mit ihnen mitgehen und ihre Not mittragen helfen, damit sie sich in ihrer Seele angenommen und begleitet fühlen.

„Und vor allem: Geben wir immer der Barmherzigkeit den Vorzug, wenn auch die Welt und der Sachverstand sich dagegen wehren. Die Barmherzigkeit ist der Eintritt Gottes in diese Welt“ (Walter Lorenz).