Teefahrer-Geschichte von Lukas Schöne
26. Oktober 2021– Jahrgang 1992, seit 2019 Teefahrer –
„Danke für den Respekt!“ – diesen Satz höre ich inzwischen bei fast jeder Teefahrt.
Ein Mann sagt ihn, der mit vielen anderen unserer Freunde am Isartor auf die Möwe Jonathan wartet. Lange kommt er noch nicht zu uns. Ich schätze, dass er nicht viel älter ist als ich. Vielleicht Anfang, höchstens Mitte 30. Sein Akzent verrät, dass er wohl aus Osteuropa stammt. Meist riecht sein Atem nach Alkohol und seine Augen schauen trübe an mir vorbei, wenn er spricht. Ich weiß nicht viel über ihn, kenne nicht einmal seinen Namen. Aber unter all dem Schmerz, den das Leben ihm schon zugefügt haben muss, erkenne ich noch etwas anderes: Ein schelmisches Lachen, wenn ich versuche einen lockeren Spruch zu machen. Die Hände, die er zum Herzen führt, wenn wir ihm Brote, Tee oder Kleidung überreichen. Ich sehe einen Menschen, dem Humor und ein respektvoller Umgang wichtig sind. Es ist eine der vielen Begegnungen, die jede einzelne der abendlichen Touren durch die Stadt so einzigartig machen.
Überhaupt: Respekt. Wenn man die Gründe, warum ich Teefahrer bin, auf einen Kern herunterbrechen möchte, dann ist es wohl genau das. Oft wird in Sonntagsreden darüber gesprochen, dass ein respektvoller Umgang in der Gesellschaft besonders wichtig ist. Wenn es dann aber darum geht, einen angemessenen Umgang mit den weniger privilegierten Menschen zu finden, dann scheitern wir meist. Das zeigt sich in den viel zu häufig fast entmenschlicht geführten Debatten über Geflüchtete; das zeigt sich aber auch an der immer noch zu geringen Aufmerksamkeit für das Thema Obdachlosigkeit – von einigen kalten Tagen im Winter mal abgesehen, an denen dann ein paar mehr Berichte erscheinen. Wird es wieder wärmer, zieht die Aufmerksamkeit weiter. Doch die Menschen bleiben.
Wer wie ich das Glück hatte, privilegiert und behütet aufzuwachsen, mit einem Dach über den Kopf und einer liebenden Familie, der kennt das wahrscheinlich: Zwar trifft es einen natürlich, wenn man zum Beispiel Obdachlose im Winter auf der Straße sieht, aber wir haben – wenn vielleicht auch unterbewusst – eher gelernt weg- als hinzuschauen. Lieber nicht damit beschäftigen, ist viel zu oft die Devise. „Wer weiß, was der Mann mit den zwei Euro macht, die er von mir erbetteln wollte. Wahrscheinlich nur Alkohol kaufen!“ All diese schwachsinnigen Phrasen und Vorurteile, die auch in meinem jugendlichen Hirn herumgeisterten. Zumal ich in einem kleinen Dorf in Nordrhein-Westfalen groß geworden bin, in dem Armut und Obdachlosigkeit keine Rolle spielten, bzw. nicht so offen zutage traten, wie das in München und anderen Großstädten leider der Fall ist.
Erst als ich 2018 anfing, als Journalist für das Münchner Kirchenradio zu arbeiten, habe ich mich mehr und mehr mit sozialen Themen beschäftigt. Klar, in Schule und Studium hatte ich mir immer wieder theoretische Gedanken gemacht und über politischen Theorien gebrütet. Aber dann wurde es für Reportagen und Berichte praktisch. Ob bei einer Nachtschicht in der Bahnhofsmission, bei Besuchen in Einrichtungen für ehemals wohnungslose Frauen oder schließlich, als ich für eine Sendung die Möwe Jonathan kennenlernte. Ich durfte einen Abend lang, im Januar 2019, mit Maria und einer Ehrenamtlichen unterwegs sein, war nachhaltig beeindruckt – und blieb.
Besonders gefällt mir, dass wir den Menschen auf der Straße da begegnen, wo sie sind. Wir kommen zu ihnen, ohne etwas dafür von ihnen zu erwarten. Allein diese Geste des Respekts imponierte mir von Anfang an sehr und imponiert mir bis heute. Leider durfte ich Walter Lorenz nicht mehr persönlich kennenlernen, doch aus Gesprächen und dem, was ich über ihn gelesen habe, meine ich zu wissen, dass genau das ihm ein tiefes Anliegen war: Nicht nur der „Essenslieferant“ zu sein, sondern auch Zeit und Begegnung auf Augenhöhe zu schenken. Ich finde, dieser Geist fährt jedes Mal mit, wenn der blaue Bus seine Runden dreht.
Vor allem, wenn wir auf Menschen treffen, die jeden Abend da sind, die „Stammgäste“, dann merkt man, dass der Ausdruck „Freunde auf der Straße“ viel mehr ist als eine Phrase. Da wird gelacht und gescherzt, aber auch ernste Themen werden besprochen. Es wird über Politik diskutiert oder über das Wetter gesprochen. Ich merke, wie sehr es die meisten freut, wenn ich sie mit Namen anspreche und mich an Details aus ihrem Leben erinnern kann, die sie mir bei anderer Gelegenheit mal erzählt haben. Andersherum bin ich genauso erfreut, wenn sich jemand an mich erinnert und zum Beispiel fragt: „Wie ist die Lage in NRW?“ Dann merke ich: Wir helfen den Menschen wirklich, indem wir jeden Abend zu ihnen kommen und ein fester Bestandteil ihres Tagesablaufs sind. Tee und Brote, so wichtig sie sind und so gerne sie natürlich genommen werden, sind dabei der Aufhänger für eine ehrliche Begegnung zwischen Menschen.
Nicht verschweigen sollte man aber natürlich, dass es nicht immer einfach ist und auch bedrückend sein kann. Wenn man beispielsweise eine Familie mit kleinen Kinder trifft, die heute wohl auf der Straße schlafen werden oder sich aus einer Situation heraus eine aggressive Stimmung zwischen ein paar Anwesenden aufbaut. Außerdem hatte ich schon einige Male damit zu kämpfen, wenn sich Menschen, denen wir begegnen, abfällig oder gar rassistisch über andere Bevölkerungsgruppen oder Geflüchtete äußern. Das widerspricht meinen tiefsten Überzeugungen und dann widerspreche ich auch vehement. Ich will den Menschen ehrlich gegenübertreten, so wie ich bin. Und dann gehört das eben dazu. Aber auch das ist eigentlich am Ende nicht verwunderlich. Schließlich haben wir es mit Menschen zu tun und mit all ihren Schwächen und Fehlern. Doch die guten Begegnungen überwiegen bei weitem.
Zu diesen Begegnungen zählen auch diejenigen mit den anderen Teefahren. Da ich Mitfahrer bin, treffe ich viele der Fahrer inzwischen regelmäßig im blauen Bus. Es ist eine schöne Allianz, die man für ein paar Stunden miteinander eingeht. Die Gespräche sind nie langweilig, nie belanglos, es ist immer viel mehr als nur Small Talk. Auch das ist schön und gibt mir sehr viel zurück. Überhaupt, bei allen altruistischen und gesellschaftlich motivierten Gründen für mein Engagement als Teefahrer: Natürlich mache ich das auch für mich selbst. Es tut gut und schärft meinen Blick auf diese Stadt, auf die Zustände des Landes generell. Jede Teefahrt erdet mich und hilft, meine eigenen Probleme und Sorgen wieder richtig einzusortieren.
Zum Schluss komme ich noch einmal auf das Thema „Respekt“ zurück: Ich empfinde einen tiefen Respekt und große Dankbarkeit für die Frauen und Männer des Vereins in der Pommernstraße, die ihr Leben der Hilfe für weniger privilegierte Menschen verschrieben haben. Ihre Herzensgüte und Empathie kommen in jedem Telefonat, jeder Mail und jeder der durch Corona viel zu selten gewordenen persönlichen Begegnungen deutlich zum Ausdruck. Danke!